Kindern zurück ins Leben helfen
In der Ukraine leisten das Kinderhilfswerk terre des hommes und DACHSER in einem langfristig angelegten Projekt psychosoziale Unterstützung für Kinder, Jugendliche und ihre Familien. Joshua Hofert, Vorstand Kommunikation bei terre des hommes Deutschland e.V., hat das Projekt in diesem Jahr selbst besucht und schildert seine Eindrücke im Interview.
Herr Hofert, wie lässt sich mit dieser Projektidee humanitäre Hilfe unter Kriegsbedingungen leisten?
Zunächst galt es, ganz unmittelbar die akute Not der Menschen zu lindern. DACHSER brachte eine funktionierende Logistikkette ein und Kunden, die sich mit Hilfsgütern humanitär engagieren wollten. So konnten Nothilfepakete mit von DACHSER Kunden gespendeten Nahrungsmitteln, Hygieneartikeln, Babynahrung und Medikamenten geschnürt werden, die über verschiedene Niederlassungen in die Nähe der ukrainischen Grenze transportiert wurden. Von dort wurden diese dann von lokalen Kräften ins Land gebracht. Dabei standen DACHSER und terre des hommes immer in einem direkten Austausch.
Welche Hilfen waren über solche Logistikleistungen hinaus in der Ukraine selbst möglich?
Angesichts der Zerstörungen im Land mit rund 15 Millionen geflüchteten Menschen, auseinander gerissenen Familien von Kriegserlebnissen traumatisierten Kindern war uns sehr schnell klar, dass die Hilfe kein Sprint, sondern ein Marathon werden würde. So haben wir im August 2022 ein Projekt zur psychosozialen Unterstützung für Kinder und Familien in der Ukraine ins Leben gerufen. Bei der Umsetzung arbeiten wir mit zwei Partnerorganisationen vor Ort zusammen, eine davon heißt „Vostok SOS“ (übersetzt Osten SOS). Die gemeinnützige Stiftung ist aus einer 2014 gestarteten Initiative entstanden, die Binnengeflüchteten aus den umkämpften und besetzten Gebieten in den Regionen Donezk und Luhansk half. Die Gründungsmitglieder der Organisation kennen dieses Schicksal, sie haben das selbst erlebt.
Erfahrene Traumatherapie-Spezialistinnen und -Spezialisten helfen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, individuell und gemeinsam Stress und Traumata zu bewältigen. Das Projektgebiet reicht dabei von Dnipro und Lviv nach Chernihiv und Vynnitsa sowie je nach Situationsentwicklung auch in weitere Orte. Eben überall dorthin, wo Familien und Kinder Schutz vor Krieg und Zerstörung suchen.
Was leistet DACHSER dabei?
Die finanzielle, aber auch ideelle Unterstützung ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Nach Kriegsbeginn hatte DACHSER intern zu Spenden für die Ukraine an terre des hommes aufgerufen. Die Resonanz der DACHSER Gesellschafter, des Managements und der Mitarbeitenden war überwältigend. Bis Juli 2022 gingen rund 80.000 Euro ein. Das Unternehmen DACHSER verdoppelte diese Spendensumme dann. Damit kann fast die Hälfte der Gesamtkosten für das Projekt gestemmt werden. Das finde ich absolut großartig.
Sie waren selbst in der Ukraine vor Ort und haben sich ein Bild vom Projektfortschritt machen können. Um welche Aufgaben geht es dort konkret? Welche Eindrücke haben Sie persönlich von ihrem Besuch mitgenommen?
Es geht um elementare Hilfe für Kinder und ihre Familien. Ich konnte mir ein Bild davon machen, wie die Traumatherapie und psychosoziale Unterstützung zur Verarbeitung von Kriegserlebnissen und den daraus resultierenden Ängsten und Albträumen aufgebaut ist. Hinzu kommt Unterstützung bei der Absicherung von Grundbedürfnissen, wie sichere Räume, der Wiederaufbau von Schulen und Kindergärten, Jugendarbeit und Jugendbeteiligung. Hinzu kommen die Dokumentation von Kinderrechtsverletzungen und Öffentlichkeitsarbeit, um ein Bewusstsein für die Situation der Kinder zu schaffen. Dabei müssen viele Hände ineinandergreifen.
Nach mehr als einem Jahr Krieg und Zerstörung gibt es abseits der Front wieder so etwas wie Normalität. Die Menschen in der Ukraine, denen ich begegnet bin, wirkten auf mich sehr mutig und zuversichtlich. Die Versorgung mit Energie, Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs funktioniert und der Wiederaufbau zerstörter Häuser und Infrastruktur läuft. Es gibt Apps, die ziemlich zuverlässig vor Luftangriffen warnen, so dass die Menschen rechtzeitig Schutzräume beispielsweise in Metrostationen von Großstädten aufsuchen können. Gleichzeitig ist aber auch die Lebensgefahr allgegenwärtig. Alle Gebiete entlang der Front sind vermint. Die Gesellschaft ist mehr und mehr daran gewöhnt, dass Konflikte mit Gewalt ausgetragen werden. Aus dieser Negativspirale wieder herauszukommen und allen Generationen in Zukunft eine Grundlage für ein Miteinander ohne Gewalt, Vorurteile und Traumata zu schaffen, ist eine Mammutaufgabe. Da ist ein langer Atem gefordert.
Was müssen die Projektmitarbeitenden vor Ort dafür mitbringen?
Mit den terre des hommes-Partnerorganisationen vor Ort können wir im Projekt auf ein internationales Team aus 20 Psychotherapeuten und -therapeutinnen in der Ukraine zugreifen. Sie sind gut ausgebildet, kennen die Verhältnisse, die Menschen und ihre Lebensumstände am besten und sind es gewohnt, sich auch im administrativen Umfeld gut und sicher zu bewegen. So können sie schnell einen Draht zu den Kindern und ihren Familien finden. Und sie tun dies mit Leidenschaft und großem Engagement.
Eine dieser engagierten Psychologinnen ist Nadia aus Chernihiv. Als die ersten Bomben fielen, hatte sie Corona und konnte nicht in den Bunker. So hat sie den Schrecken des Krieges gleich von Anfang an unfreiwillig hautnah erlebt. Heute arbeitet sie unter anderem im Bereich der Kunsttherapie mit. Hier lernen Kinder in einem ersten Schritt, über das Malen und Gestalten ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Das macht ihnen Spaß, bringt sie auf andere Gedanken und gibt ihnen ein Stück Geborgenheit. Auf diese Weise werden die Kinder aus dem Ohnmachtsgefühl der Fremdbestimmung herausgeholt. Sie sind dann für einen Moment nicht Objekt des Krieges, sondern können selbst entscheiden, was sie tun, was sie malen wollen und welche Farben sie dabei benutzen. Ein kleiner, aber bedeutender Schritt zurück in ein selbstbestimmtes Leben. Nadia erzählte mir, ein Kind habe sie kürzlich mal erstaunt gefragt: „Ihr macht das wirklich nicht für Geld? Ihr seid so gute Menschen!“ Das habe Nadia sehr berührt und ihr viel Kraft gegeben, nicht nachzulassen, den Kindern den Weg in eine bessere Zukunft zu bereiten.
Welche Botschaft geht von dem terre des hommes-Projekt mit DACHSER aus?
Mein Besuch in der Ukraine hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, den Kindern in dieser existenziellen Situation Perspektiven zu geben. Sie spüren das ganz genau und sind sehr dankbar, dass es da draußen Menschen gibt, die auf sie schauen und ihnen das Gefühl geben: Wir sind nicht vergessen.